„Die politische Lage in Charkiw ist katastrophal“

Prof. Dr. Diether Götz vom Partnerschaftsverein Charkiw-Nürnberg e.V.  Foto: MS NewMedia
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NÜRNBERG (mue) - Zu den insgesamt 13 Partnerstädten Nürnbergs gehört seit 1990 auch das ostukrainische Charkiw – mit knapp anderthalb Millionen Einwohnern nach der Hauptstadt Kiew die zweitgrößte Stadt des Landes. Mit mehreren Dutzend (!) Universitäten und Hochschulen (die Zahl variiert von Zeit zu Zeit) ist Charkiw zum einen das bedeutendste Wissenschafts- und Bildungszentrum des Landes, zum anderen durch die Ansiedlung von Elektro-, Nahrungsmittel- und chemischer Industrie, aber auch Maschinen- und Schienenfahrzeugbau ein wichtiges Industriezentrum.


In den letzten Wochen überschlagen sich die Meldungen über die Ereignisse in der Ukraine, vor allem die Halbinsel Krim sowie der Osten des Landes rücken dabei immer mehr in den Fokus; eine Spaltung des Landes (nach Russland der zweitgrößte Flächenstaat in Europa) droht, eine diplomatische Lösung scheint bislang in weite Ferne gerückt. Aber im Partnerschaftsverein Charkiw-Nürnberg e.V. engagieren sich Menschen, die persönlich die Städtepartnerschaft mitgestalten wollen – auch, um mitzuhelfen, vielen Ukrainerinnen und Ukrainern ein Stück Zukunft zu bieten. Zukunft im eigenen Land, in der Heimat. Aus aktuellem Anlass sprach der MarktSpiegel mit Antje Rempe und Prof. Dr. Diether Götz, beide Vorstandsmitglieder im Partnerschaftsverein:

MarktSpiegel: Wie beurteilen Sie die politische Lage in der Ukraine, insbesondere im Osten des Landes und auf der Krim?

A. Rempe: Katastrophal. Wie das für kommenden Sonntag angesetzte Referendum auf der Krim – unter den Augen der so genannten „Selbstverteidigungskräfte“ – ausgehen wird, ist eigentlich bereits klar. Von Demokratie kann man hier nicht sprechen. Schlimm ist auch, dass zum Beispiel Journalisten und pro-ukrainische Aktivisten verschleppt werden, und auch die Krim-Tartaren haben es momentan alles andere als einfach. Positiv hervorheben muss man, dass sich die ukrainischen Truppen bisher vorbildlich friedlich verhalten haben – man lässt sich nicht provozieren, sondern sucht im Gegenteil eigentlich ständig den Dialog mit den pro-russischen Truppen.

MarktSpiegel: Was wird Ihrer Meinung nach mit Krim und Ost-Ukraine geschehen?

D. Götz: Egal, welchen Status die Krim nach dem Referendum haben wird – ob nun als Teil Russlands oder eher autonom –, sie wird wohl leider kein Teil der Ukraine mehr sein. Ob sich Wladimir Putin damit allerdings einen Gefallen tut, bleibt abzuwarten, denn ethnische Konflikte – wie mit den Tartaren – scheinen vorprogrammiert, und auch den bedeutenden Einfluss der ukrainischen Oligarchen darf man nicht außer Acht lassen. Jedenfalls ist eines klar: Die Ukraine einfach pauschal in einen pro-westlichen Westteil und einen pro-russischen Ostteil aufzugliedern, dafür fehlt jede Grundlage.

A. Rempe: Die meisten Menschen im Osten des Landes möchten nach wie vor in der Ukraine leben, demonstrieren auch dafür bzw. bringen dies immer wieder zum Ausdruck. Leider jedoch wird genau darüber in den Medien so gut wie gar nicht berichtet.

MarktSpiegel: Welche Rolle spielt in Ihren Augen Vitali Klitschko?

A. Rempe: Zuerst: Klitschko ist dem Maidan treu geblieben und war stets bemüht, dass es dort friedlich zugeht. Im Gegensatz zu manchem Politiker – und das macht ihn glaubwürdig – hat er sein Geld auch nicht zusammengeklaut, sondern ehrlich mit seinem Sport verdient. Allerdings ist er politisch eher unerfahren, kann nicht allzu gut Reden halten und hat sehr lange im Ausland gelebt. All das sind nicht gerade Pluspunkte für ihn.

D. Götz: Auf dem Maidan hat Klitschko allerdings auch einen politischen Reifeprozess durchgemacht. Hinzu kommt: Viele Ukrainer wollen gar keine vorbelasteten Politiker mehr, was für Klitschko wiederum ein Vorteil ist.

MarktSpiegel: Empfinden Sie die Reaktionen des Westens insgesamt als angemessen?

D. Götz: Für mich beinhaltet kluge Politik auch, die Ansichten der jeweiligen Gegenseite zu berücksichtigen, sie also mit einzukalkulieren. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich befürworte in keiner Weise das russische Vorgehen auf der Krim. Aber ohne Russland bzw. Putin jetzt verteidigen zu wollen: Russische Befindlichkeiten sind wiederholt grob verletzt worden. Russland wurde in der Vergangenheit zum Beispiel zugesichert, dass die NATO-Grenzen nie bis an die russischen Grenzen gehen werden. Zudem besteht für mich eine erhebliche Mitschuld der EU darin, dass man es versäumt hat, mit Russland bereits viel früher den Dialog zu suchen. Dieser Zug ist nun leider abgefahren. Während die Ukraine eine wirklich perfekte „Brücke“ zwischen dem Westen und Russland wäre, prallen dort ständig nur westliche und russische Interessen aufeinander – die Interessen der Ukrainer selbst bleiben dabei stets auf der Strecke, daher auch der Maidan.

MarktSpiegel: Welche Meldungen bekommen Sie aktuell direkt aus Charkiw?

D. Götz: Der auch bereits in Nürnberg von mehreren Lesungen bestens bekannte Autor, unser Freund Serhij Zhadan, wurde von pro-russischen Kräften brutal zusammengeschlagen und konnte erst vor kurzem wieder das Krankenhaus verlassen. Und Oleh Peregon, der Vorsitzende der „Grünen Front“ (eine Umweltschutzorganisation, Anm. d. Red.), hat sich dieser Tage freiwillig zum Dienst in den ukrainischen Streitkräften gemeldet. Zudem gibt es natürlich jede Menge Demonstrationen, sehr oft auch pro-ukrainisch. Alles in allem werden wir vom Direktor des Nürnberger Hauses in Charkiw, Anatolij Mosgovij, bestens informiert und auf dem Laufenden gehalten.

MarktSpiegel: Wie beeinflusst das Geschehen die umfangreiche Arbeit des Vereins?

D. Götz: Im Augenblick noch gar nicht, alles läuft wie bisher. Wir sind halt stets bestrebt, via Internet und aus weiteren Quellen aktuelle Meldungen und Analysen aus Charkiw und der Ukraine zu bekommen. Die Zeiten sind momentan wirklich sehr unruhig.

MarktSpiegel: Ohne orakeln zu wollen – wie sehen Sie persönlich die Zukunft?

D. Götz: Im Moment tue ich mich sehr schwer damit, irgendwelche Prognosen abzugeben, aber zwei Dinge glaube ich nicht: Erstens, dass Putin auch im ukranischen Kernland militärisch eingreifen wird und dass es zweitens zu einer Spaltung in Ost- und West-Ukraine kommt. Denn noch einmal: Die Mehrheit der Menschen dort möchte, dass der Gesamtstaat erhalten bleibt.

MarktSpiegel: Welchen Weg sollten die Ukrainer Ihrer Meinung nach gehen – den nach Westen oder den historisch geprägten, der das Land ja auch kulturell eher mit Russland verbindet?

D. Götz: Keinen von beiden. Wichtig wäre viel eher, dass die Ukraine auch künftig gute Verbindungen nach Europa und Russland gleichermaßen unterhält. Die Frage nach EU oder Eurasischer Union würde ich in diesem Fall gar nicht stellen – man braucht nicht für alles eine Mitgliedschaft oder irgendwelche Assoziierungsabkommen.

MarktSpiegel: Welche Folgen hätte in Ihren Augen ein eventueller Anschluss an Russland für die Städtepartnerschaft und vor allem für die vielen Projekte, die Ihr Verein betreut bzw. unterstützt?

D. Götz: Darüber denken wir augenblicklich gar nicht nach, denn das können und wollen wir uns nicht vorstellen. Für den Fall des Falles gibt es also noch kein Szenario. Sollte es so kommen, dann wäre das eine völlig neue Situation, und dann würde es auch nicht mehr nur um die Vereinsarbeit gehen, sondern generell um die Städtepartnerschaft.

MarktSpiegel: Was kann Nürnberg momentan für die Menschen in Charkiw konkret tun?

D. Götz: So traurig es klingt: relativ wenig. Denn es wäre vermessen, sich in die Geschehnisse dort direkt einzumischen – auch das können und wollen wir gar nicht. Wichtig und für die Menschen in Charkiw auch psychologisch eine große Hilfe ist die Tatsache, dass sie sich jederzeit unserer Solidarität sicher sein können. Dies versichern wir als Verein auch im Namen der Stadt Nürnberg immer wieder.

(Interview: Uwe Müller)

Partnerschaftsverein
Carkiv-Nürnberg e.V.

Spentenkonto: 1 3500 58
BLZ: 760 501 01
Sparkasse Nürnberg

www.nuernberg-charkiw.de

Autor:

Uwe Müller aus Nürnberg

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