Karlsruhe kippt das Betreuungsgeld

Die Richter in Karlsruhe entschieden, dass das Betreuungsgeld nicht in die Zuständigkeit des Bundes fällt. | Foto: ©lilo/Fotolia.com/Symbol
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,,Betreuungsgeld zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse nicht notwendig"

NÜRNBERG (nf) - Das Bundesverfassungsgericht hat das Betreuungsgeld mit dem heute, 21. Juli 2015, verkündeten Urteil gekippt. Dem Bundesgesetzgeber fehlt die Gesetzgebungskompetenz für das Betreuungsgeld. Dies hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts einstimmig entschieden.

Das Bundesverfassungsgericht erklärte in einer Pressemitteilung: ,,Die §§ 4a bis 4d des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes, die einen Anspruch auf Betreuungsgeld begründen, sind daher nichtig. Sie können zwar der öffentlichen Fürsorge nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG zugeordnet werden, auf die sich die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes erstreckt. Die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG für die Ausübung dieser Kompetenz durch den Bund liegen jedoch nicht vor."

AWO-Chef Thomas Beyer begrüßt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, mit dem die umstrittene Familienleistung gekippt worden ist. „Das Betreuungsgeld hat seit Inkrafttreten im Jahr 2013 wie ein Fremdkörper in der deutschen Familienpolitik gewirkt, weil es an der Lebenswirklichkeit der meisten Eltern und ihrer Kinder vorbeigegangen ist. Nachdem das Bundesverfassungsgericht mit seinem heutigen Urteil, das ich außerordentlich begrüße, dieses rückwärtsgewandte Instrument gekippt hat, kann und muss es in Sachen Kinderbetreuung nach vorne gehen. Das heißt, Kindertagesstätten müssen ausgebaut und bundesweit einheitliche Betreuungsstandards etabliert werden.
Auch wenn das Bundesverfassungsgericht nicht inhaltlich beurteilte, sondern überprüft hat, ob die Gesetzgebungskompetenz für die Betreuung von Kindern beim Bund oder bei den Ländern liegt, appellier ich an die Politik, nicht zu versuchen, nachzubessern, sondern besagte Sozialleistung „ersatzlos zu streichen. Insbesondere CSU-Politiker – die geistigen Mütter und Väter der umstrittenen Familienförderung – sollten jetzt darauf verzichten, aus Parteiräson Modifikationen vorzuschlagen. Das Betreuungsgeld ist sowieso nie mehr gewesen als ein Zugeständnis der großen Koalitionspartner an den kleinen. Überzeugt hat es weder die SPD noch die CDU. Nach dem heutigen Tag muss die Bundesregierung dafür sorgen, dass die bis jetzt für die Auszahlung des Betreuungsgelds zur Verfügung gestellten Mittel in den weiteren Ausbau der Kindertagesstätten und ihrer Qualität fließen oder gezielt für die Stärkung von Alleinerziehenden-Haushalten eingesetzt werden."

„Das ist eine politische Klatsche für die CSU“, kommentiert Thorsten Brehm, Vorsitzender der SPD Nürnberg, die Entscheidung der Richter zum Betreuungsgeld. „Und mit der Maut droht ihrem anderen Prestigeprojekt gleich die nächste herbe Niederlage vor Gericht. Das Bundesverfassungsgericht hat geurteilt, dass die Leistung nicht in die Zuständigkeit des Bundes fällt. Ich hoffe, dass die Union endlich von dem Projekt abrückt. Das Betreuungsgeld läuft allen Bemühungen zuwider, insbesondere Kindern aus sozial schwierigen und bildungsferneren Schichten einen guten Start und Chancengleichheit zu eröffnen. Die nun freiwerdenden Mittel sollten deswegen in den Ausbau der Kinderbetreuung und deren Qualität investiert werden. Dort wird das Geld dringend gebraucht. Für 2015 waren im Bundeshaushalt 900 Millionen Euro eingestellt."

„Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, mit dem das Betreuungsgeld als verfassungswidrig eingestuft wird, ist eine Stärkung der Kita als Bildungseinrichtung. Es schafft den falschen Anreiz ab, den Besuch einer wichtigen frühkindlichen Bildungseinrichtung zu vermeiden, und fördert damit zugleich die soziale Integration“, erklärt Erlangens Bildungs- und Jugendreferent Dieter Rossmeissl zum heutigen Urteil des BVerfG. ,,Auch wenn das Gericht seine Entscheidung lediglich mit der fehlenden Zuständigkeit des Bundes begründet, bedeute sie doch eine grundsätzliche bildungspolitische Weichenstellung. Der Staat zahlt ja auch nicht dafür, dass jemand nicht zur Schule geht“, merkt Rossmeissl an und verweist darauf, dass Kindertageseinrichtungen nicht nur eine Betreuungsfunktion haben, sondern auch wichtige Orte gemeinsamer, sozial integrativer Erziehung und frühkindlicher Bildung seien. Er gehe davon aus, dass der Bund künftig die für das Betreuungsgeld vorgesehenen 900 Millionen Euro so verteilt, dass sie zu einer wirksamen Stärkung von Familien- und Kinderbildung beitragen. Die Erwartung Seehofers, der Bund solle auch nach Auslaufen der jetzt zugesagten Mittel einen bayerischen Sonderweg weiter finanzieren, bezeichnete Rossmeissl als absurd.

Der Nürnberger Referent für Jugend, Familie und Soziales, Reiner Prölß, begrüßt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Betreuungsgeld: „Wenngleich das Urteil Zuständigkeitsfragen zwischen Bund und Ländern geklärt hat und nicht die sozial- beziehungsweise bildungspolitische Wirkung des Betreuungsgelds beurteilte, so ist das Urteil dennoch eine wichtige Korrektur einer gesellschaftlich falschen Weichenstellung.“
Nach der Einführung der Geldleistung, die durch das Zentrum Bayern Familie & Soziales des bayerischen Sozialministeriums ausgezahlt wird, wurden laut Prölß auch Mitnahmeeffekte deutlich: Eltern bezogen Betreuungsgeld in der Zeit, in der sie auf die Zusage für einen Krippenplatz warteten. Auch gleichstellungs- und arbeitsmarktpolitisch sei das Betreuungsgeld kritisch zu betrachten. So sind es nur wenige Männer, die es beantragt haben.
Besonders ärgerlich für Kommunen sei zudem, dass es bisher keine verlässlichen Zahlen zur Inanspruchnahme des Betreuungsgelds auf kleinräumiger Ebene gibt. Dazu Prölß: „Grundlage jeder seriösen Infrastrukturplanung sind Annahmen über die erwartete Inanspruchnahme. Bis heute tappen die Kommunen völlig im Dunkeln bei der Frage, inwieweit sich das Betreuungsgeld auf die Kitaplatzplanung auswirkt.“
Bezüglich der Ankündigung des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer, Bayern werde das Betreuungsgeld weiterhin zahlen, ruft Prölß zu mehr Besonnenheit auf: „Ich würde mir wünschen, dass auf das Urteil nun nicht reflexhaft oder gar trotzig mit der sofortigen Einführung eines bayerischen Betreuungsgelds reagiert wird, sondern in aller Ruhe nachgedacht wird, wie Familien optimal gefördert werden können. Das Geld könnte sehr sinnvoll in den Ausbau der Familienbildung, für Frühe Hilfen oder die Verbesserung der Qualität in Kitas eingesetzt werden. Einige Wochen des Innehaltens, Nachdenkens und des fachlichen Diskurses wäre im Interesse der Familien in Bayern hilfreich.“

Autor:

Redaktion MarktSpiegel aus Nürnberg

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