"Und dafor musstn mer n Umweg von fuffzehnhundert gillometrn machn?"

Foto: Faltblatt des bayerischen Innenministeriums
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25 Jahre Grenzöffnung - Man erinnert sich

Vorgeschichte

Es geschah Schlag Mitternacht vom 10. auf den 11. September 1989 an der ungarisch-österreichischen Grenze: Eine DDR-Familie im rostbraunen Lada passierte ungehindert den Übergang Hegyeshalom - Nickelsdorf und fuhr Richtung Wien, gefolgt von vielen Tausend Bürgern aus dem sozialistischen Deutschland. Wenige Stunden zuvor hatte der ungarische Außenminister Gyula Horn im Fernsehen seines Landes verkündet, Ungarn lasse alle DDR-Bürger gen Westen ausreisen. Die Regierungen in Ost-Berlin, Tschechien und Rumänien protestierten heftig. Allein vom 11. bis zum 13. September reisten etwa 12.000 DDR-Bürger über Ungarn in den Westen.

Vorher hatte Budapest die damalige sowjetische Führung über die bevorstehende Grenzöffnung informiert. Vorausgegangen waren zudem geheime Beratungen zwischen Horn, dem damaligen Ministerpräsidenten Miklos Nemeth und ihren deutschen Kollegen Hans-Dietrich Genscher und Helmut Kohl in Gymnich. Nach ergebnislosen Verhandlungen mit Ost-Berlin beschloss Budapest, die Ausreise der DDR-Bürger einseitig zu genehmigen. Dafür wurde ein Abkommen mit der DDR von 1969 "vorläufig" außer Kraft gesetzt. Tausende DDR-Bürger hatten vorher in der Budapester Botschaft der Bundesrepublik Asyl gesucht.

Diesem historischen Moment, durch den Ungarn zum Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 beitrug, waren jahrelange hartnäckige und zielstrebige Schritte der Reformkommunisten in Budapest vorausgegangen. Erstes Signal war eine geheime Denkschrift des ungarischen Grenztruppen-Chefs Janos Szekely, vom 5. Oktober 1987. Weil am 1. Januar 1988 ohnehin die Reisefreiheit für ungarische Bürger eingeführt werden sollte, erklärte Szekely, der Grenzzaun sei "moralisch veraltet". Außerdem sei der Stacheldraht so verrostet, dass es zu häufigen Fehlalarmen komme. Die Sowjets würden keinen neuen Stacheldraht mehr liefern, so dass man diesen aus dem Westen importieren und dafür auch noch Devisen bezahlen müsste. Der sprichwörtliche ungarische Pragmatismus hatte sich längst gegen alle Ideologien durchgesetzt.

Am 18. April 1989 begannen die Ungarn, den Zaun abzubauen. Am 2. Mai gaben sie dies offiziell bekannt. Danach kündigte die UdSSR den Truppenabzug aus Ungarn an, und am 27. Juni durchtrennten Horn und sein österreichischer Kollege Alois Mock symbolisch den Grenzzaun zwischen den Nachbarländern. Von Juli an suchten tausende ausreisewillige DDR-Bürger Zuflucht in den bundesdeutschen Vertretungen von Budapest, Prag, Warschau und Ost-Berlin. Das Rote Kreuz und der Malteser Hilfsdienst stellten Zelte für die Flüchtlinge auf, als in den Botschaften der Platz knapp wurde.

Zum ersten massenhaften Grenz-Durchbruch kam es am 19. August bei einem so genannten "Paneuropäischen Picknick". Diese Veranstaltung, bei der sich eigentlich nur Ungarn und Österreicher treffen sollten, hatten die ungarische Oppositionsbewegung Demokratisches Forum (MDF) und der Europa Abgeordnete Otto von Habsburg organisiert. Vereinbart war, dass dazu die österreichisch-ungarische Grenze für drei Stunden geöffnet wird. Dies nutzten etwa 800 DDR-Urlauber und strömten nach Österreich, ohne von den ungarischen Grenzbeamten behindert zu werden.

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Erinnerungen an den 9. November 1989

Einige dieser "Grenzübergänger" kamen auch nach Erlangen und wurden unter anderem in der Pension Engelhardt am Heusteg in Dechsendorf einquartiert.

Darunter waren auch einige Familien mit kleinen Kindern, denen ich einfach helfen musste.

Ich nahm Kontakt auf und besuchte die Bürger mehrmals die Woche, organisierte Behördengänge sowie Freizeitprogramme für die Kinder. Am Donnerstag, den 9. November 1989 saßen wir in der Gaststube zusammen und unterhielten uns über die Ereignisse in der alten Heimat. Botschaftsbesetzung und Ausreise aus Prag, die Montagsdemonstrationen in vielen Großstädten, Rücktritt von Erich Honecker und viele andere Themen waren Gesprächsstoff. Unter dem neuen Ministerpräsidenten Egon Krenz sollte ein neues Reisegesetz in Kraft gesetzt werden.

Im Obergeschoss waren die Wohnungen der Familien, dort standen auch einige Fernsehgeräte, die natürlich ständig liefen. Gegen 19 Uhr wurde Günther Schabowski, Mitglied des Politbüros der SED auf einer internationalen Pressekonferenz gefragt, wann das neue Reisegesetz in Kraft treten würde und er antwortet:

"Nach meiner Kenntnis - ist das sofort, unverzüglich..."

.... unverzüglich kam ein Bewohner der Pension am Heusteg in die Gaststube herunter und rief schon im Treppenhaus :

"D Grenze is offn!"

Keiner glaubte es. Nach und nach kamen weitere Bewohner nach unten und bestätigten das Unfassbare. Wir alle standen auf, umarmten und küssten uns und hatten Freudentränen im Gesicht. Die Stimmung war unbeschreiblich und dazwischen schrie eine Frau aus Meißen

"Und dafor musstn mer n Umweg von fuffzehnhundert gillometrn machn?"

Diese Frau blieb mit Familie in Erlangen und hatte sich zwischenzeitlich eine eigene Existenz aufgebaut - ein Schreibwarengeschäft mit Poststelle in Erlangen- Büchenbach.

Jetzt lebt sie in der Nähe von Bad Windsheim und hilft ihrer Tochter dort in einem Geschäft.

Autor:

Günther Klebes aus Erlangen

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