Expertin warnt: Kinder verlernen das Schreiben mit der Hand!

Das Erlernen der Handschrift ist ein komplexer Vorgang und fördert die Enwicklung des Gehirns. | Foto: © Africa Studio/Fotolia.com (Symbolbild)
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REGION (pm/vs) - Der internationale Tag der Handschrift am 23. Januar jeden Jahres lässt die Diskussion um das Schreiben mit der Hand wieder hochkochen. Bildungsexpertin Stephanie Müller, die seit rund 15 Jahren auf dieses Thema spezialisiert ist, gibt klare Antworten auf die Fragen rund um alle Lernprozesse, die mit dem Schreiben mit der Hand und der Digitalisierung des Lernens zusammenhängen. Wichtiger denn je sei es, Risiken und Chancen für eine gute Lernentwicklung zu kennen und umzusetzen – nur so werde das Lernen gelingen!

„In meiner Generation und unter meines Gleichen bin ich ein Sonderling, Frau Müller. Während meine Mitstudenten in den Vorlesungen alle Tippen, die Folien des Dozenten mit dem Tablet oder Smartphone abfotografieren, schreibe oder zeichne ich Inhalte und Zusammenhänge per Hand – was sagen Sie dazu, was raten Sie mir? Bin ich altmodisch?“ Fragen dieser Art kennt Stephanie Müller aus vielen Beratungsgesprächen oder innerhalb ihrer Vortrags- und Fortbildungsarbeit für Lehrkräfte, Erzieher/innen, Eltern und medizinisches Fachpersonal im Förderbereich (Ergo- und Physiotherapie, Kinderärzte, Logopäden u.m.) in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Bei großen Elterninformationsabenden, die Müller in Kitas, Schulen und im öffentlichen Bereich gibt, ist der Einwurf, warum Kinder noch das mühsame Schreiben mit der Hand lernen müssten, in ein paar Jahren tippe und wische eh jeder nur noch, mittlerweile ein Standardeinwurf. Stephanie Ingrid Müller setzt dann gerne noch eins drauf und ergänzt, dass auch das in naher Zukunft nicht mehr nötig sei, da die Spracherkennungssysteme auch derart zulegen, dass nicht einmal mehr der Einsatz von Hand und Fingern nötig sei – „Alexa“ macht es ja bereits vor!
Schreiben mit der Hand ist seit fünfzehn Jahren Stephanie Ingrid Müllers wissenschaftlicher Forschungsschwerpunkt. In ihrer Arbeit zeigt sie auf, nicht nur wie wichtig es ist, dass Kinder im frühen Kindesalter per Hand malen und zeichnen und als Schulkind das Schreiben mit der Hand erlernen. Müller erklärt, dass es sogar einem Verbrechen am Menschen gleich käme, wenn Kindern nicht mehr das Schreiben mit der Hand mit einer verbundenen Schriftart gelehrt wird. Genau darum wird in den letzten Jahren zunehmend heiß diskutiert.
Kinder weisen eine immer schlechter werdende Feinmotorik auf, bereits 2014 attestierte Müller in ihrer Arbeit, dass bis zu 70 % der Grundschüler eine schlechte Feinmotorik haben bzw. Stifte nicht mehr richtig führen können. Dieses Phänomen nimmt weiterhin erschreckend zu! Leider reagieren viele so darauf, dass sie die Anforderungen innerhalb des Schreiblernprozesses und vielen anderen feinmotorischen Aufgaben, wie z.B. Schneide- und Klebeaufgaben gar nicht mehr in das Gruppenangebot der Kita oder im Unterricht der Grundschule einbauen, denn: es kostet zu viel Zeit und zu viele Kinder scheitern – Lernfrust tritt ein, bei allen Beteiligten: Kindern, Eltern, Lehrkräfte, Erzieher, bildungspolitische Entscheider.
Innerhalb des Schreiblernprozesses entscheiden sich Lehrkräfte daher für Schriftarten oder Schreibtechniken, die weniger feinmotorische Anforderungen stellen, um den Unterrichtsauftrag zu schaffen. Und gerade das ist falsch. Zunehmend legt die Gehirnforschung den Fokus darauf, was Müller schon lange interdisziplinär zusammen getragen hat und aus ihrem eigenen Werdegang weiß: je komplexer Fingerbewegungen sind, um so besser ist die Gehirnleistung. Das, was ein Mensch mit der Hand geschrieben hat, bildet im Gehirn Gedächtnisspuren ab, wird also während des Schreibvorgangs auch gelernt. Hier treffen hochkomplexe Gehirnaktivitäten zusammen, die unter anderem auch die Sprach- und Begriffsentwicklung betreffen. Wer Schreiben kann, kann auch lesen – umgekehrt ist dies nicht der Fall. Beim Tippen werden Wörter durchgehend „buchstabiert“, beim verbundenen Schreiben handelt es sich um Silben und ganze Wörter – entspricht also auch gesprochener Sprache! Mehr denn je ist es Pflicht, Kinder auf dem Weg ins Leben das Schreiben mit der Hand beizubringen und dies bis zum Verlassen der Grundschule sicher zu stellen - das lässt auch das Denken besser gelingen. Selbst in der jahrtausendealten chinesischen Medizin gelten Fingerbewegungen als Quelle und Ursprung für Gehirnpflege und –entwicklung.
Müller spricht sich im Zuge dessen ganz und gar nicht gegen das Tippen mit der Tastatur aus – ganz im Gegenteil. Im digitalen Zeitalter ist es auch Pflicht, unsere Kinder in ihre Zukunft zu begleiten und auf sie vorzubereiten. "Ein heute sechsjähriger Schüler macht 2030 sein Abitur –in zwölf Jahren haben wir noch nicht vorstellbare technologische Alltagstandards! Wir müssen unsere Kinder gut ihre Zukunft ausbilden! Müller warnt jedoch davor, dem Hype der Digitalisierung zu sehr zu folgen. Vielmehr geht es darum, genau zu unterscheiden, was, wie und in welcher Dosis digital oder besser original vermittelt wird und nicht „Hauptsache digital und somit auch modern und im Trend der Zeit“. Hier liegt eine große Aufgabe und Gefahr – Chance, Risiko und Pflicht wie Müller es formuliert.
Tippen haben wir uns alle, auch ohne Unterricht dafür, angeeignet. Kaum jemand, der heute nicht tippen kann. Schreiben mit der Hand - das ist ein hochkomplexer Vorgang, der tatsächlich Jahre geübt werden muss und im Gehirn wichtige Denkstrukturen erzeugt. In diesem Sinn ist Handschrift Hirnschrift und damit Pflichtprogramm und Ziel der ersten zehn Lebensjahre eines Menschen. Nur so können und werden wir die Ressource Denk- und Entwicklergeist in Deutschland auch weiterhin sicherstellen", so Müller. Und der Studentin, die bei Stephanie Müller Rat suchte, ob Sie ein Überbleibsel einer alten Tradition ist und nicht lieber auch endlich nur noch tippen, wischen und klicken soll, sagt Stephanie Müller: „Super! Machen Sie unbedingt weiter so! Sie bereiten sich schon bestens auf Ihre Prüfungen vor, denn wer mit der Hand schreibt, lernt gleichzeitig. Das ist seit Jahren konkret mit Studierenden nachgewiesen worden. Sie machen es richtig!“

Zur Person

Stephanie Ingrid Müller, Leitung Mediastep-Institut Nürnberg, Forschungsschwerpunkt Lernen, Schreiben mit der Hand, Sprachentwicklung, Digitalisierung des Lernens, Kunst- und Medienpädagogik, Schriftspracherwerb

Autor:

Redaktion MarktSpiegel aus Nürnberg

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