Der Welle hinterher
Warum kann die Politik Corona nicht bremsen?

Symbolfoto: © Ramona Heim / stock.adobe.com
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BERLIN (dpa/mue) - Der Münchner Christkindlmarkt wurde nun doch komplett abgesagt. Kinder tragen wieder Masken. Ärzte und Pfleger verzweifeln an der Situation. Noch im Sommer wähnte sich Deutschland auf dem Weg der Besserung, raus aus der Pandemie, zurück zur Normalität ohne Lockdowns. Und jetzt dieses Desaster: Mehr Corona-Neuinfektionen als im Dezember 2020, jeden Tag traurige Rekorde. Wie konnte es soweit kommen – und wie kommt man da wieder heraus?

Die Ministerpräsidenten der Bundesländer versuchen im Rahmen einer Konferenz mit der amtierenden Bundeskanzlerin Angela Merkel, das Ruder herumzureißen und die vierte Welle zu brechen. Zudem soll der Bundestag die neuen Corona-Maßnahmen der Ampelparteien beschließen. Vor allem für Ungeimpfte wird der Alltag schwierig. Aber reicht das? Schon jetzt ist klar, dass Kliniken bald noch mehr zu kämpfen haben werden. Es gilt eine grausam unbestechliche Mathematik. Von den neulich an einem Tag gemeldeten 50 000 Neuinfizierten müssen wohl 350 auf die Intensivstation und 200 werden sterben, wie Lothar Wieler vorrechnete, der Präsident der Robert Koch-Instituts.

Überfüllte Krankenhäuser verlegen immer mehr Patientinnen und Patienten. Behandlungen werden verschoben. Es wächst die Angst vor einer verzweifelten Lage, vor Konkurrenz um Intensivbetten, vor vielen Toten. Von «Politikversagen» ist nun die Rede, von Bund-Länder-Hickhack, fehlender Führung und Ignorieren der Wissenschaft, die seit Monaten vor einer machtvollen Rückkehr des Virus warnte. Corona habe Schwächen des Staates schonungslos offengelegt, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Wochenbeginn. «Defizite bei Vorsorge und Vorausschau, Rückstände bei der Digitalisierung, hakende Abläufe in verflochtenen Institutionen, all das trägt dazu bei, dass Möglichkeiten nicht ausgeschöpft werden, dass es oft zu lange dauert, bis wir umsetzen können, was wir schon als richtig erkannt haben.»

Es war wohl eine Mischung aus zu großer Selbstgewissheit, sommerlicher Sorglosigkeit, einer Furcht vor weiterer Spaltung der Gesellschaft – oder vor der Wut der Bürger bei der Bundestagswahl – und dem deutschen Hang zur Endlosdiskussion, die dazu beitrug, dass die Politik Entscheidungen aufschob oder im Zickzack lief. Unterm Strich lief seit Monaten vieles schief:

- Die Impfkampagne begann holprig: Als am 26. Dezember 2020 die 101 Jahre alte Edith Kwoizalla die erste Corona-Impfung erhielt, war die Euphorie groß. Aber dann war der Impfstoff knapp, es folgten Impfneid und Streit und viel Verunsicherung über den Impfstoff von Astrazeneca. Geworben wurde da für die Impfung nur leise. Für die Kampagne «Ärmel hoch» ließen sich Promis mit Pflaster auf dem Oberarm ablichten. Doch nicht nur der Werbeträger Günther Jauch war gar nicht geimpft. Er steckte sich mit Corona an, bevor er dran war.

- Das Impfziel reichte nicht: Erst hieß es, 60 bis 70 Prozent würden gebraucht zur Eindämmung des Virus. Das entsprach in etwa der Zahl der Menschen, die in Umfragen Interesse an der Corona-Spritze bekundeten. Diese Quote ist erreicht. Aber die Delta-Variante des Virus ist so viel ansteckender, dass nun 80 bis 85 Prozent nötig wären. Länder wie Portugal haben das geschafft. In Deutschland aber müssten dafür noch viele Unwillige überzeugt werden.

- Eine Impfpflicht wurde ausgeschlossen: Nicht nur Bundeskanzlerin Angela Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn legten sich schnell fest. Es schien Konsens, dass niemand zum Impfen gezwungen werden darf. Nur Bayerns Ministerpräsident Markus Söder sagte im Frühjahr 2020: «Für eine Impfpflicht wäre ich sehr offen.» Stattdessen wurde gestritten, ob Nachteile für Ungeimpfte zumutbar seien. Jetzt ist es schwer, selbst für einzelne Gruppen wie Beschäftigte in Pflegeheimen von der ehernen Linie abzuweichen. Frankreich entschied sich anders und steht besser da.

- Es war Wahlkampf und es war Sommer: Als im Frühsommer endlich genügend Impfstoff für alle da war, sanken auch die Corona-Zahlen. Zugleich wollte im Wahlkampf vor der Bundestagswahl am 26. September niemand neue Ängste schüren. Als in Israel deutlich wurde, dass die Impfung nur etwa sechs Monate verlässlich schützt, wurden zwar Anfang August auch in Deutschland Auffrischungsimpfungen auf den Weg gebracht. Allerdings empfahl die Ständige Impfkommission dies nur für Alte und bestimmte Gruppen. Erst Anfang November hieß es plötzlich: Boostern für alle, und zwar schnell.

- Epidemische Lage vorbei? Es war der CDU-Politiker Spahn, der am 18. Oktober öffentlich vom Auslaufen der «epidemischen Lage nationaler Tragweite» sprach, und zwar mit Hinweis auf das nur noch moderate Risiko für geimpfte Personen. Trotz steigender Corona-Zahlen betonten auch die Ampelparteien SPD, Grüne und FDP, der Ausnahmezustand sei nicht mehr angemessen. Prompt kam Protest. «Das ist auch in der Sache eine Fehlentscheidung», wetterte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU). Doch auch in dieser Frage fällt nun eine Korrektur schwer.

Nun ringen die Ampelpartner um den Coronakurs und schärfen hektisch ihre Pläne nach. Aber bringt das die Wende? 3G in Bahn und Bus kommt ganz offensichtlich zu spät. Zu spät – das sagen Expertinnen und Experten auch über Auffrischimpfungen für Hochbetagte. Da sie als erste geimpft wurden, brauchen sie auch als erste den Booster, das war seit langem klar. Bundesweit liegt die Auffrisch-Impfquote in der Generation 60plus aktuell bei knapp 12 Prozent.

Zu wenig, zu spät – das Muster wiederholt sich. Und eines wird klar: Die Politik rennt auch der vierten Virus-Welle hinterher.

Autor:

Uwe Müller aus Nürnberg

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